„IT-Strategie? Dafür haben wir keine Zeit – wir müssen erst mal die aktuellen Probleme lösen!“
Diese Aussage höre ich oft. Aber genau das ist der Denkfehler: Ohne Strategie kämpfen Sie immer nur gegen Symptome, nie gegen die Ursachen. Oder wie ein Kollege mal treffend sagte: „Wir müssen den Zaun reparieren und nicht nur die Hühner einfangen.“
Die Realität: Feuerwehr-Modus als Dauerzustand
Kennen Sie diesen Teufelskreis? Montags fällt der Mail-Server aus. Dienstags beschweren sich die Mitarbeiter über die langsame ERP-Software. Mittwochs will die Geschäftsführung ein neues CRM-System. Donnerstags crasht die Backup-Lösung. Freitags fragen alle nach dem Status der Digitalisierung.
Das Problem: Ohne strategische Planung reagieren Sie nur – Sie agieren nie.
Was eine IT-Strategie wirklich ist
Eine IT-Strategie ist nicht das, was viele denken. Sie ist nicht:
- Ein 80-seitiges Dokument von teuren Beratern
- Ein starres 5-Jahres-Konzept
- Eine Wunschliste für neue Technologien
- Ein Projekt für „später, wenn wir Zeit haben“
Eine IT-Strategie ist vielmehr die Antwort auf vier zentrale Fragen:
- Wo stehen wir heute? (Ist-Zustand)
- Wo wollen wir hin? (Soll-Zustand)
- Wie kommen wir dahin? (Roadmap)
- Was kostet es und was bringt es? (Business Case)
Typische IT-Landschaft im Mittelstand
Bevor wir eine Strategie entwickeln, schauen wir uns die Realität an. In den meisten mittelständischen Unternehmen finde ich:
Das „Historische Museum“:
- ERP-System von 2010, das „eigentlich gut läuft“
- Excel-Listen für alles, was das ERP nicht kann
- Verschiedene Insellösungen ohne Integration
- Server im Keller, die keiner mehr anfassen will
Das „Chaos-System“:
- Jeder Fachbereich hat seine eigene Software
- Daten existieren mehrfach in verschiedenen Systemen
- Passwörter werden per E-Mail verschickt
- Backups? „Macht der Server automatisch“
Das „Hoffnungs-Portfolio“:
- Drei angefangene Digitalisierungsprojekte
- Ein CRM-System, das keiner nutzt
- Eine Cloud-Lösung, die nicht mit dem ERP spricht
- Ein Projektleiter, der das alles irgendwie zusammenhalten soll
Kommt Ihnen bekannt vor? Dann wird es Zeit für eine Strategie.
Strategieentwicklung in 6 Schritten
Schritt 1: Geschäftsziele verstehen (1 Tag)
Warum wichtig: IT ohne Business-Bezug ist Technik-Spielerei.
Konkrete Umsetzung:
- Sprechen Sie mit der Geschäftsführung: Was sind die Top 3 Unternehmensziele?
- Fragen Sie Fachbereiche: Wo drückt der Schuh am meisten?
- Analysieren Sie Trends: Wo geht die Branche hin?
Praxis-Tipp: Erstellen Sie eine einfache Matrix: Unternehmensziel vs. aktuelle IT-Unterstützung
Schritt 2: IT-Inventur durchführen (2 Tage)
Warum wichtig: Sie können nicht planen, was Sie nicht kennen.
Konkrete Umsetzung:
- Systeme: Welche Anwendungen nutzen wir?
- Infrastruktur: Welche Hardware haben wir?
- Daten: Wo liegen welche Informationen?
- Prozesse: Wie arbeiten wir heute?
- Kosten: Was kostet uns die IT wirklich?
Praxis-Tipp: Nutzen Sie ein einfaches Excel-Template statt teurer Discovery-Tools
Schritt 3: Gaps identifizieren (1 Tag)
Warum wichtig: Hier liegt der Handlungsbedarf.
Konkrete Umsetzung:
- Funktionale Gaps: Was können wir nicht, müssten aber?
- Performance-Gaps: Was läuft zu langsam?
- Integrations-Gaps: Was spricht nicht miteinander?
- Sicherheits-Gaps: Wo sind wir verwundbar?
- Skill-Gaps: Welche Kompetenzen fehlen uns?
Praxis-Tipp: Bewerten Sie jede Lücke nach Auswirkung (hoch/mittel/niedrig) und Aufwand (hoch/mittel/niedrig)
Schritt 4: Prioritäten setzen (1 Tag)
Warum wichtig: Sie können nicht alles gleichzeitig machen.
Konkrete Umsetzung:
- Must-have: Was muss sofort gemacht werden?
- Should-have: Was sollte in den nächsten 12 Monaten passieren?
- Nice-to-have: Was wäre schön, aber nicht kritisch?
Praxis-Tipp: Verwenden Sie die Eisenhower-Matrix: Wichtig/Unwichtig vs. Dringend/Nicht dringend
Schritt 5: Roadmap erstellen (1 Tag)
Warum wichtig: Ein Plan ohne Termine ist ein Wunschzettel.
Konkrete Umsetzung:
- Kurzfristig (0-6 Monate): Kritische Probleme lösen
- Mittelfristig (6-18 Monate): Strategische Projekte starten
- Langfristig (18-36 Monate): Zukunftsprojekte planen
Praxis-Tipp: Planen Sie nur 70% Ihrer Kapazität – der Rest wird von ungeplanten Aufgaben aufgefressen
Schritt 6: Kommunikation etablieren (1 Tag)
Warum wichtig: Die beste Strategie nützt nichts, wenn sie niemand kennt.
Konkrete Umsetzung:
- Geschäftsführung: Quartalsweise Status-Updates
- Fachbereiche: Monatliche Projektberichte
- IT-Team: Wöchentliche Roadmap-Reviews
- Alle Mitarbeiter: Jährliche IT-Präsentation
Praxis-Tipp: Erstellen Sie eine A4-Übersicht Ihrer IT-Strategie für alle Stakeholder
Praxisbeispiel: Strategieentwicklung bei einem Handelsunternehmen
Die Schmidt Handel GmbH (120 Mitarbeiter) hat ihre IT-Strategie in 4 Wochen entwickelt:
Ausgangssituation:
- Altes ERP-System ohne Web-Integration
- Kein Online-Shop trotz B2B-Geschäft
- Manuelle Prozesse in der Logistik
- Wachsende Cyberrisiken
Strategieentwicklung:
Woche 1: Geschäftsziele verstehen
Ergebnis: Fokus auf B2B-Online-Geschäft und Prozessautomatisierung
Woche 2: IT-Inventur
Ergebnis: 15 kritische Systeme identifiziert, 8 Integrationslücken gefunden
Woche 3: Gaps und Prioritäten
Ergebnis: 5 Must-have-Projekte definiert
Woche 4: Roadmap und Kommunikation
Ergebnis: 18-Monats-Plan mit klaren Meilensteinen
IT-Strategie auf 2 Seiten:
- Vision: „Digitaler Vorreiter in unserem Marktsegment“
- Ziele: 3 konkrete IT-Ziele für 18 Monate
- Projekte: 5 Hauptprojekte mit Terminen und Budgets
- Erfolgsmessung: 4 KPIs für IT-Performance
Mittelstands-Tipp: Template für Ihre IT-Strategie
Seite 1: Strategie-Überblick
- IT-Vision: (1 Satz – wohin wollen wir?)
- IT-Ziele: (3 konkrete Ziele für 12-18 Monate)
- Erfolgsmessung: (3-5 KPIs)
Seite 2: Roadmap
Kurzfristig (0-6 Monate):
- Projekt 1: [Name] – [Termin] – [Budget]
- Projekt 2: [Name] – [Termin] – [Budget]
Mittelfristig (6-18 Monate):
- Projekt 3: [Name] – [Termin] – [Budget]
- Projekt 4: [Name] – [Termin] – [Budget]
Langfristig (18+ Monate):
- Projekt 5: [Name] – [Termin] – [Budget]
Die häufigsten Fallstricke vermeiden
Fallstrick 1: Zu detailliert planen
Problem: 50-seitige Strategiedokumente verstauben in der Schublade
Lösung: Maximal 2-3 Seiten, dafür konkret und umsetzbar
Fallstrick 2: Ohne Business-Bezug
Problem: IT-Strategie wird als Technik-Wunschzettel gesehen
Lösung: Jedes IT-Projekt muss einen messbaren Business-Nutzen haben
Fallstrick 3: Unrealistische Zeitpläne
Problem: Alles soll sofort passieren
Lösung: Lieber weniger Projekte, aber diese erfolgreich abschließen
Fallstrick 4: Keine Kommunikation
Problem: IT-Strategie bleibt Geheimwissen der IT-Abteilung
Lösung: Regelmäßige Updates an alle Stakeholder
Ihr nächster Schritt
Starten Sie diese Woche mit Ihrer IT-Strategie:
Praxis-Check:
- Kenne ich die Top 3 Geschäftsziele meines Unternehmens?
- Habe ich eine aktuelle Übersicht aller IT-Systeme?
- Weiß ich, welche IT-Probleme am meisten kosten?
- Kann ich die IT-Ziele für die nächsten 12 Monate benennen?
- Habe ich einen konkreten Projektplan?
Wenn Sie weniger als 3 Fragen mit „Ja“ beantworten können, blockieren Sie sich 6 Tage in den nächsten 4 Wochen für Ihre Strategieentwicklung.
Fazit
Eine IT-Strategie zu entwickeln ist nicht kompliziert – es erfordert nur strukturiertes Vorgehen. In 6 Schritten und 6 Arbeitstagen haben Sie einen konkreten Plan, der Ihnen hilft, vom reaktiven Feuerwehr-Modus in die proaktive Gestaltung zu wechseln.
Wichtig: Perfektion ist nicht das Ziel. Eine gute Strategie, die umgesetzt wird, ist besser als eine perfekte Strategie, die nie realisiert wird.
Im nächsten Artikel zeige ich Ihnen, wie Sie IT-Risiken systematisch erfassen und bewerten – ohne dass Sie zum Risikomanagement-Experten werden müssen.